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Stressresilienz

Einen interessanten Blick auf unsere Fähigkeit, mit Stress umzugehen und die große Bedeutung der Körpererfahrung in diesem Zusammenhang gibt hier der Neurobiologe Gerald Hüther. Der folgende Text ist mit Genehmigung des Verlages entnommen aus dem sehr empfehlenswerten Buch: Gerald Hüther, Was wir sind und was wir sein könnten. Ein neurobiologischer Mutmacher. © S.Fischer Verlag, Frankfurt 2011
 

Wir könnten gesünder und zufriedener sein


Wenn die Prognosen der WHO zutreffen — und es gibt keinen Grund, an der prognostizierten dramatischen Zunahme stressbedingter Erkrankungen in den hochentwickelten Industriestaaten zu zweifeln —, so werden in Zukunft kaum bewältigbare Kosten auf die medizinischen Versorgungssysteme und damit auf die Krankenkassen dieser Länder zukommen. Absehbar ist nicht nur eine enorme Zunahme stressbedingter somatischer Erkrankungen, vor allem die durch muskuläre Verspannung verursachten langfristigen Schäden des Halte- und Bewegungsapparates und die durch permanent erhöhten Sympatikotonus verursachten kardiovaskulären Störungen. Es ist auch mit einem dramatischen Anstieg stress- und angstbedingter psychischer Erkrankungen zu rechnen, dazu zählen Angststörungen, Depressionen, Suchterkrankungen, Zwangsstörungen, Burn-out-Syndrome etc.
 

Nur vordergründig scheint diese Entwicklung durch eine zunehmende berufliche Belastung der arbeitenden Bevölkerung bedingt zu sein. Wesentlich bedeutsamer dürfte eine ständig abnehmende Fähigkeit der Menschen in den hochentwickelten Industriestaaten sein, mit psychischen Belastungen umzugehen. Zu viele Menschen leiden an Stress, weil sie über zu geringe Kompetenzen zur Stressbewältigung verfügen. Hierzu zählt die Fähigkeit zur Selbstregulation und zur Selbstreflexion, gut ausgebildete Kontrollüberzeugungen und Selbstwirksamkeitskonzepte, Frustrationstoleranz und Flexibilität. Bei vielen sind die Konfliktlösungskompetenz die Planungs- und Handlungskompetenz und die Fähigkeit zur konstruktiven Beziehungsgestaltung nur unzureichend entwickelt. Diese Menschen erleben sich allzu leicht als ohnmächtig, als ausgeliefert und fremdbestimmt. Dieser Mangel an eigenen Kompetenzen zur Stressbewältigung wird noch enorm verstärkt durch einen hohen Erwartungsdruck durch eigene unrealistische Vorstellungen und durch einen Mangel an kohärenten, sinnstiftenden und haltbietenden Orientierungen.
 

Wie die neueren Ergebnisse der Hirnforschung zeigen, werden Erfahrungen immer gleichzeitig auf der kognitiven, auf der emotionalen und auf der körperlichen Ebene in Form entsprechender Denk-, Gefühls- und körperlicher Reaktionsmuster verankert und aneinander gekoppelt (»Embodiment«).
 

Aus diesem Grund sind alle späteren Versuche, die Stressbewältigungsfähigkeit von Menschen durch kognitive Fortbildungsprogramme zu verbessern, zwangsläufig zum Scheitern verurteilt, wenn dabei nicht gleichzeitig auch die emotionalen (Gefühle, Einstellungen, Haltungen) und die körperlichen Ebenen (Bewegung, Körperbeherrschung, Körperhaltung) mit einbezogen werden. Nur wenn Menschen neue Erfahrungen von Selbstwirksamkeit, Gestaltungskraft und Entdeckerfreude am eigenen Körper und unter Aktivierung ihrer emotionalen Zentren machen, können diese Erfahrungen auch nachhaltig in Form entsprechender neuronaler Verschaltungsmuster in ihrem Gehirn verankert werden. Nur so lässt sich ihre Resilienz, also ihre Stressbewältigungsfähgkeit, auch noch im Erwachsenenalter stärken.
 

 [Wir können] zu jedem Zeitpunkt unseres Lebens die bisher herausgeformten Verschaltungen in unserem Gehirn auch neu konstruieren. Wir müssten dazu eines dieser bisher benutzten motorischen, sensorischen, kognitiven oder affektiven Muster verlassen, also beginnen, anders zu sehen, zu fühlen oder zu handeln.
 

Wenn es uns gelingt, auf einer dieser Ebenen ein neues Muster auszubilden, so werden alle anderen Ebenen davon gleichsam »mitgezogen«. Wenn wir damit beginnen könnten, die Welt anders als bisher zu betrachten oder anders zu denken, wenn es uns gelänge, nicht immer mit den gleichen Gefühlen auf dieselben Auslöser zu reagieren oder vielleicht auch nur eine andere Körperhaltung einzunehmen, so hätte das enorme Folgen für alles, was auf der Baustelle »Gehirn« passiert. Denn dann werden nicht nur diejenigen neuronalen Verschaltungsmuster umgebaut, die an dieser neuen Leistung beteiligt sind, sondern ebenso auch alle anderen, die damit auf irgendeine Weise in Verbindung stehen.
 

Das menschliche Gehirn ist aber nicht nur umbaufähiger als bisher angenommen. Die Wahrnehmung und das Empfinden und Denken und das Fühlen, auch die Stimmungen und die Körperhaltung und all das, was im Körper passiert, sind viel enger miteinander verbunden und aneinander gekoppelt, als bisher gedacht. Körper und Geist, Denken und Fühlen bilden normalerweise eine Einheit: Änderung ist auf allen Ebenen möglich. Am leichtesten gelingt das, wenn wir beginnen, unseren eigenen Körper wiederzuentdecken Weil er ursprünglich so eng mit dem Gehirn und mit allem, was dort geschah, verbunden war, bietet der Körper einen besonders guten Zugang zu allen Ebenen des Erlebens und Verhaltens, zu den im Hirn abgespeicherten Sinneseindrücken, den Gefühlen, den unbewussten Verhaltensmustern und nicht zuletzt zu den früheren Erinnerungen. Deshalb erfahren die meisten Menschen, sobald sie ihren Körper wiederzuentdecken beginnen, dass sie nun wieder Zugang zu sich selbst finden. Für jeden, der sich darum bemüht, eingefahrene Körperhaltungen alte Bewegungs- und Verhaltensmuster zu verändern, besteht der Lohn seiner Anstrengung in einer Wiederentdeckung seiner eigenen Kompetenz, in einer neuen Haltung und einer neuen Einstellung — und nicht zuletzt in einem Zuwachs an Selbstgefühl und Selbstvertrauen. Das bedeutet nichts anderes als das Wiederfinden der eigenen Gestaltungskraft und Lebendigkeit. Damit dieser komplexe Umbauprozess gelingt, bedarf es mehr als guter Ratschläge, Gespräche oder tiefschürfender Überlegungen. Sie wären nur dann ein geeignetes Mittel, wenn sie auch wirklich auf den Grund gehen, d. h. wenn sie zu grundlegend neuen emotional aufrüttelnden Erkenntnissen führen, die dann auch neue Erfahrungen ermöglichen. Weitaus wirkungsvoller sind reale Erfahrungen, die die betreffende Person mit all ihren Sinnen macht, die also nicht nur verbale Repräsentationen von Erfahrungen sind.
 

Um unsere unbewusst und implizit herausgeformten, über lange Zeiträume stabilisierten Prägungen umzugestalten, müsste also in uns ein positiv besetztes und sehr tief sitzendes inneres Bedürfnis geweckt werden. Es müsste so etwas wie eine tiefe innere Berührung erfolgen, eine möglicherweise schon lange verschüttete Sehnsucht in uns wieder wach werden. Dann vielleicht könnten wir das, was wir für unser »Ich« halten, als ein recht schief gewordenes Haus in seiner Schräglage tatsächlich sehen und uns daranmachen, es von dort aus, wo es noch stabil und gerade steht, also von ganz unten her, wieder aufzurichten. Und gut gebaut, noch nicht verbogen und noch festgefügt war das »Ich« damals, als es noch nicht von dem abgetrennt war, was wir den Körper und die Gefühle nennen. Als wir uns noch nicht ständig darum bemüht hatten, so zu werden, wie es diejenigen, zu denen wir dazugehören wollten, damals von uns erwartet haben. Wir müssten uns also auf die Suche nach dem machen, was unser ursprüngliches »wahres Selbst« ist, nämlich eins zu sein und zu Hause zu sein in unserem Körper, mit all unseren authentischen Regungen und Empfindungen. Dann wären wir nicht nur zufriedener, dann würden wir auch wieder gesünder.

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